Der Freytag: Der Tondichter aus dem Ei

Eine Betrachtung zu Richard Wagners 212. Geburtstag

„Im wunderschönen Monat Mai kroch Richard Wagner aus dem Ei, ihm wünschen, die zumeist ihn lieben, er wäre besser drin geblieben.“
Diese schelmischen Verse schrieb Wagner selbst – eine bitter-ironische Selbstreflexion zu seinem eigenen Geburtstag, verfasst während seiner prekären Pariser Jahre um 1840/41, als der Misserfolg an allen Türen klopfte und die Welt des Tondichters noch in weiter Ferne lag.

Am 22. Mai 2025, hätte Richard Wagner seinen 212. Geburtstag gefeiert. Geboren 1813 in Leipzig, war er das jüngste von acht Kindern einer Familie, die kaum ahnen konnte, welcher Titan aus ihren Reihen hervorgehen sollte. Doch der Weg dorthin war steinig, gepflastert mit existenziellen Zweifeln – nicht nur finanzieller, sondern vor allem künstlerischer Natur.

Der zerrissene Künstler zwischen Dichtung und Komposition

Wagner war zeit seines Lebens hin und hergerissen zwischen zwei Berufungen: War er Komponist oder Dichter? Diese fundamentale Ungewissheit quälte ihn jahrzehntelang. Bereits in seiner Jugend schrieb er mit glühender Begeisterung ein Trauerspiel namens „Leubald“, dessen dramatische Wucht ihn derart überwältigte, dass er es unbedingt vertonen wollte. Hier keimte bereits die Idee des Gesamtkunstwerks, ohne dass er es damals bewusst erkannt hätte.

Der Begriff „Tondichter“ – mit dem Wagner später ehrfürchtig bedacht wurde – entstammt interessanterweise nicht seiner eigenen Feder. Die Ausdrücke „Tonkunst“ und „Tondichter“ entstanden im 19. Jahrhundert aus dem Bedürfnis heraus, der Musik einen Platz unter den klassischen Künsten einzuräumen und den Komponisten als schöpferisches Individuum anzuerkennen. So findet sich beispielsweise auf den Inschriften der 1842 errichteten Walhalla Beethoven als „Tondichter“ betitelt. Bereits zeitgenössische Quellen bezeichneten Wagner als „den größten Tondichter seit Beethoven’s Tode“, was zeigt, dass seine Zeitgenossen ihm diesen Ehrentitel zuerkannten – lange bevor er selbst seine künstlerische Identität vollständig gefunden hatte.

Die Chronologie eines revolutionären Schaffens

Wagners Opernschaffen entwickelte sich in deutlich erkennbaren Phasen. Seine erste vollendete Oper „Die Feen“ schrieb er bereits 1833-1834, gefolgt von „Das Liebesverbot“ (1834-1836) und dem monumentalen „Rienzi“ (1837-1840). Doch erst mit „Der fliegende Holländer“ (1840-1841) fand er seinen eigenen Ton – jene düsteren, schicksalhaften Klänge, die seine späteren Meisterwerke prägen sollten.

Die 1840er Jahre brachten „Tannhäuser“ (1845) und „Lohengrin“ (1848) hervor, bevor Wagner sich dem kolossalen Projekt seines Lebens zuwandte: dem „Ring des Nibelungen“. Die ersten Ideen zum Ring gehen auf 1843 zurück, doch die eigentliche Arbeit begann 1852 in Zürich. Wagner schrieb zunächst rückwärts: erst „Siegfrieds Tod“ (später „Götterdämmerung“), dann „Der junge Siegfried“, schließlich „Das Rheingold“ und „Die Walküre“. Bis März 1857 komponierte er, unterbrach dann aber die Arbeit und konnte sie erst 1869 wieder aufnehmen. Am 21. November 1874 vollendete er schließlich nach einem Vierteljahrhundert den „Ring des Nibelungen“ in seinem Haus Wahnfried.

Zwischen dieser Mammutaufgabe entstanden „Tristan und Isolde“ (vollendet 1859) und „Die Meistersinger von Nürnberg“ (vollendet 1867). Sein letztes Werk, „Parsifal“, beendete er erst 1882, ein Jahr vor seinem Tod.

Die verborgene Dichtkunst

Wenig bekannt ist, dass Wagner auch abseits seiner Operntexte ein produktiver Dichter war. Wagner schrieb mindestens 270 Gedichte, Verse, Vierzeiler und sonstige Reimereien, die einen intimeren Blick auf den Menschen hinter dem Monument gewähren. Viele seiner Gedichte richtete er an König Ludwig II. von Bayern, andere an seine Frauen, Freundinnen und Verwandte, an Mitarbeiter und Künstler, Freunde und Unterstützer aller Art.

Seine politischen Überzeugungen spiegelten sich in Gedichten wie „Gruss aus Sachsen an die Wiener“ und „Die Noth“ wider, in denen er die revolutionären Ideale des Frühlings der Völker 1848 zum Ausdruck brachte. In „Die Noth“ schuf er eine ironische Hymne auf die „strenge Gottheit Noth“, die alle gesellschaftlichen Schichten erfasst und zu einem allgemeinen Aufbruch führen soll.

Berührend sind auch seine privaten Verse, wie jene an König Ludwig: Im ersten Gedicht verglich Wagner die Großzügigkeit des Königs mit dem Wunder des „Tannhäuser“; genauso wie sich der päpstliche Stab mit frischem Grün bedeckte, traten Hoffnung und Trost ins Herz des Komponisten ein.

Der weltweite Zauber eines Giganten

Heute, mehr als 140 Jahre nach Wagners Tod, leuchten seine Opern ungebrochen in den Spielplänen der Welt. Von den Bayreuther Festspielen bis zur Metropolitan Opera, von Tokyo bis Buenos Aires – Wagner ist zur universellen Sprache der Oper geworden. Seine Innovationen revolutionierten nicht nur die Musik, sondern das Theater schlechthin: das Konzept der „unendlichen Melodie“, die systematische Leitmotivtechnik, die Verschmelzung von Orchester und Gesang zu einer symphonischen Einheit.

Die Wagner-Gemeinde ist ein Phänomen für sich. In aller Welt versammeln sich Wagner-Gesellschaften, deren Mitglieder von einer Leidenschaft erfasst sind, die oft religiöse Züge trägt. Sie pilgern nach Bayreuth wie andere nach Mekka, sie diskutieren über Deutungen und Inszenierungen mit der Inbrunst von Theologen. Wagner schuf nicht nur Opern – er schuf eine Kultur, eine Lebenshaltung, eine Art zu empfinden.

Das bleibende Rätsel

Was macht Wagners Faszination aus? Vielleicht liegt es gerade in jenem Zwiespalt, der ihn zeitlebens quälte – zwischen Dichter und Komponist, zwischen Mensch und Übermenschen-Anspruch, zwischen Intimität und Monumentalität. Thomas Mann charakterisierte ihn treffend als den „schnupfenden Gnom aus Sachsen mit Bombentalent und schäbigem Charakter“ – eine Formulierung, die die paradoxe Natur dieses Künstlers auf den Punkt bringt.

Wagner war kein makelloser Held, sondern ein zutiefst menschlicher Künstler mit allen Widersprüchen seiner Epoche. Gerade diese Ambivalenz macht ihn bis heute faszinierend. Er verkörpert den romantischen Künstler par excellence: genial und problematisch, visionär und verblendet, ein Titan mit allzu menschlichen Schwächen.

Seine selbstironischen Verse zu seinem Geburtstag zeigen einen anderen Wagner – einen, der über sich selbst lachen konnte, der die Absurdität seiner Existenz erkannte. Vielleicht hätten die, „die zumeist ihn lieben“, tatsächlich gewünscht, er wäre im Ei geblieben – die Welt wäre um eine gewaltige künstlerische Erfahrung ärmer gewesen.

So kroch an jenem Mai-Tag 1813 nicht nur ein Kind aus dem Ei, sondern ein musikalisches Universum begann sich zu entfalten, das noch heute, 212 Jahre später, die Gemüter bewegt und die Seelen erschüttert. Wagner bleibt, was er immer war: ein Rätsel, ein Ärgernis, ein Wunder – und unsterblich.

„Im wunderschönen Monat Mai“ – der Vers hallt nach, ein Echo aus einer Zeit, als die Musik noch Welten erschaffen konnte.

Sapere aude!

S. Noir