Ein Brief nach Frankreich

Lieber N.,

wie geht es Dir? Ich habe neulich, als ich spazieren ging, zufällig an Dich gedacht u. mich gefragt, wie es Dir wohl geht. Erinnerst Du Dich noch an unsere erste Begegnung? Ich kam zu Dir ins Amt, wusste aber nicht, was mich erwartet, u. ich wusste auch nicht, dass Du dort tätig bist. War dann, zugegeben, etwas überrascht, dass ich Dich dort antraf. Ein Dokument, welches ich benötige, führte uns zusammen u. ließ unsere Wege kreuzen; erinnerst Du Dich noch an das Schreiben?

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr konkret daran erinnern, es kommt mir jetzt im Rückblick vor wie ein Traum. Aber ich erinnere mich noch sehr gut an den Flur, an diesen sehr alten Flur, mit seinem typischen Ämter-PVC-Boden, der auch schon bessere Tage erlebt haben muss. Als ich diesen typischen Reinigungsduft im Flur roch, der den ganzen Gang durchtränkte, wusste ich, dass sich hier niemand gerne lange aufhält, wenn er nicht unbedingt muss. Auch an die hohen Holzregale im Flur kann ich mich noch gut erinnern, die diesen sehr langen Gang einen mehr als nur gruseligen Touch verliehen u. die Raumluft nochmal um einiges schlechter werden ließ – wie kann man es nur dort aushalten, fragte ich mich. Und just im gleichen Augenblick, ich war noch auf der Suche nach dem richtigen Raum, bist Du plötzlich mit einer Heiterkeit u. Freundlichkeit aus einer Tür von nebenan herausgeschossen u. fragtest mich: „Wie kann ich behilflich sein?“ Zugegeben, ich war in diesem Augenblick mehr als überrascht; überrascht, da Du wirklich so klein und schmächtig von der Statur warst, wie man es aus dem Fernseher nur erahnen konnte, u. mindestens genauso überrascht war ich von deiner Hilfsbereitschaft u. Freundlichkeit. Du hast mich auch sofort mit du angesprochen u. hast meinen Vornamen gewusst – wie seltsam (!) -, nachdem wir kurz über mein Anliegen sprachen, ich wusste natürlich auch den Deinigen u. ganz zwang- u. formlos waren wir sehr vertraut miteinander; obwohl es nur Augenblicke gewesen sein können. Du bist dann ebenso fix wieder verschwunden, wie du aufgetaucht bist u. kamst nur wenige Augenblicke später zurück u. überreichtest mir mein Dokument.

Seit damals haben sich viele Dinge verändert, die Welt ist nicht mehr die, die sie mal war. Ganze Kontinente haben sich jetzt verändert u. derzeit kann man sich kaum noch an die Zeit erinnern, als alles noch einigermaßen normal war. Aber was ist schon normal, vielleicht war die gesamte Welt noch nie normal u. je normaler wir sie uns wünschen, desto abnormaler scheint sie zu werden – sie scheint sich daraus einen Spaß machen zu wollen.
Du bist jetzt auch nicht mehr in Amt u. Würden u. Dein Leben sollte sich auch wieder normalisiert haben. Der Fokus der Öffentlichkeit ist kaum noch auf Dich gerichtet, außer neulich, da konnte man kurz etwas über eine Anklage lesen, was daraus geworden ist, habe ich dann aber nicht weiter verfolgt, ich hoffe doch sehr, dass alles – wieder – bei euch in Ordnung ist. Ich denke, dass Du Deine Aufgaben erfüllt hast u. nun gut von deinen Zuwendungen leben kannst – alles hat ja auch bekanntlich seinen Preis. Ich vermute, dass Du Paris verlassen hast u. an einem Ort Deine Zelte aufgeschlagen hast, der sicherer ist, als Paris derzeit (?) – was man im Moment über Paris liest, stimmt mich doch etwas traurig. Die Sicherheit ist dahin u. wie gern‘ würde ich mal wieder einer Café im Café de la Paix oder im Café de Flore trinken, aber die Lage ist mir zu unsicher – schade eigentlich, vielleicht hätte ich Dich auch mal kurz besucht, um mit Dir über die aktuelle Zeit zu sprechen, denn es gäbe viel zu erzählen, wichtige Dinge, von denen ich glaube, dass Du sie gerne hören würdest, u. ich glaube auch, dass Du zugänglich wärst u. Du mir ebenfalls viel erzählen könntest. Du weißt ja noch, dass ich mich stark mit Deinem Land verbunden fühle – ich hoffe, wir bleiben in Verbindung u. ich sage: Au revoir!

S.