Der Freytag: Herodot! Hast du etwas Zeit für mich? Über 99 Luftballons und über den finalen allerletzten Luftballon

Manche Lieder muss man nicht nur hören; man muss auch ihre Texte lesen und auf sich wirken lassen.

»Hast du etwas Zeit für mich?
Dann singe ich ein Lied für dich
Von 99 Luftballons
Auf ihrem Weg zum Horizont
Denkst du vielleicht grad an mich?
Dann singe ich ein Lied für dich
Von 99 Luftballons
Und, dass sowas von sowas kommt

99 Luftballons
Auf ihrem Weg zum Horizont
Hielt man für Ufos aus dem All
Darum schickte ein General
‘ne Fliegerstaffel hinterher
Alarm zu geben, wenn’s so wär
Dabei war’n dort am Horizont
Nur 99 Luftballons

99 Düsenflieger
Jeder war ein großer Krieger
Hielten sich für Captain Kirk
Es gab ein großes Feuerwerk
Die Nachbarn haben nichts gerafft
Und fühlten sich gleich angemacht
Dabei schoss man am Horizont
Auf 99 Luftballons

99 Kriegsminister
Streichholz und Benzinkanister
Hielten sich für schlaue Leute
Witterten schon fette Beute
Riefen: „Krieg!“, und wollten Macht
Mann, wer hätte das gedacht?
Dass es einmal so weit kommt
Wegen 99 Luftballons

Wegen 99 Luftballons
99 Luftballons

99 Jahre Krieg
Ließen keinen Platz für Sieger
Kriegsminister gibt’s nicht mehr
Und auch keine Düsenflieger
Heute zieh’ ich meine Runden
Seh’ die Welt in Trümmern liegen
Hab’ ‘n Luftballon gefunden
Denk’ an dich und lass’ ihn fliegen«

»Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« (Carl von Clausewitz). Der nachdenkliche Dichter möchte noch hinzufügen: Und das Armutszeugnis einer Gesellschaft, deren Ideen verebbt sind, deren Brunnen gefüllt mit Mitmenschlichkeit versiegt, und deren Sinn und Verstand am Tiefpunkt angelangt sind. 1983 war ich noch jung und verstand weder vom Leben noch vom Krieg etwas; vielmehr dachte ich, dass alle Menschen gut sind. Für einen Siebenjährigen ist dieser naive Kinderblick auf die Welt der Normalzustand – ob die heutigen Siebenjährigen die Welt noch so kindlich betrachten, mag ich fast bezweifeln. Die Leichtigkeit des Kindseins hat an Schwere zugenommen, zumindest, wenn ich meinem erwachsenen Blick auf die Welt, auf junge Familien und deren Kinder Glauben schenke. Doch auch ich unterliege dem, was sich lapidar Täuschung nennt. Unser Blick auf die Welt und ihre Geschehnisse ist nie ungetrübt.

Zurzeit ist es jedoch völlig egal, mit welcher Sehhilfe wir auf das Weltgeschehen blicken. Sei es durch die Brille der deutschen Presse, durch die Gläser der angelsächsischen Medien, durch das Monokel russischer Fensterscheiben oder sogar durch die französischen Glasbausteine – alle deuten, mal mehr, mal weniger deutlich, auf ein Finale hin; mit der möglichen Folge eines Flächenbrands oder gar eines Atomkriegs. Gezündelt wird auf Teufel komm raus – ist der Beelzebub wohl längst entfesselt?! Man mag kaum darüber nachdenken, was auf uns zurollt. German Angst, sie ist nicht unbegründet. »99 Jahre Krieg / Ließen keinen Platz für Sieger / Kriegsminister gibt’s nicht mehr / Und auch keine Düsenflieger.« Doch es gibt auch Hoffnung. Die Angst mag steigen, aber sie ist zugleich eine Chance zur Umkehr. Nach Hannah Arendt: »Angst ist für das Überleben unverzichtbar.« Und der Dichter fügt hinzu: Da sie zum Handeln nötigt und ab einem gewissen Punkt sogar zwingt.

»Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor; denn in diesem begraben die Söhne ihre Väter, in jenem die Väter ihre Söhne.« (Herodot, griechischer Historiker und Geograph, 490/480 v. Chr. – um 430/420 v. Chr.)

Ursprünglich war für diese Wochenkolumne ein anderer Inhalt geplant. Doch die Ereignisse der letzten Woche zwingen mich zu diesen Worten. Am Ende geht es immer um uns alle. Wir, die wir Teil der Weltgemeinschaft sind. Wir, die sich durch Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe als Menschen beweisen. An uns liegt es, welchen Lauf die Welt nimmt. Es ist unsere Verantwortung, unser Handeln, das die Zukunft formt. Jetzt ist der Moment, innezuhalten und zu fragen: Was tun wir, um die Welt besser zu machen? Wir können nicht abwarten, bis andere die Richtung vorgeben – wir selbst müssen den Wandel vorantreiben. Sapere aude!

S.

Der Freytag: DerFreytag.de

PS: Und das Video zum Song bleibe ich euch natürlich auch nicht schuldig: NENA | 99 Luftballons [1983] [Offizielles HD Musikvideo] https://www.youtube.com/watch?v=Fpu5a0Bl8eY

 

99 Luftballons