Der Freytag: Tag der Befreiung? – 9. Mai 1945 – Notabene 45

Tag der Befreiung?

„Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt man nicht alle Tage. Also, denkt man, müsste dieser neunte Mai ein außergewöhnlicher Tag sein. Doch es war ein ganz gewöhnlicher Tag. Die Straßen waren leer. Die Leute gingen umher, als ob nichts geschehen wäre. Nur der Himmel war so blau wie selten.“ (Erich Kästner, Notabene 45, Eintrag vom 9. Mai 1945)

Ich lese gerade „Notabene 45″, Erich Kästners tagebuchartige Aufzeichnungen eines Jahres, das Weltgeschichte schrieb. Der 9. Mai 1945 – ein ganz gewöhnlicher Tag, schreibt er. Und doch war nichts mehr wie zuvor. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Zumindest in Europa. Deutschland kapitulierte bedingungslos. In Moskau zeigte der Kalender bereits den 9. Mai an, als die Kapitulation um 0:01 Uhr in Kraft trat. Darum wird dort bis heute an diesem Datum gefeiert: Tag des Sieges. In Deutschland spricht man meist vom 8. Mai.

Vier Jahrzehnte später, am 8. Mai 1985, hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede, die in ihrer Klarheit und Würde bis heute Maßstäbe setzt. Es war der 40. Jahrestag des Kriegsendes, und er sagte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. […] Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Ein Satz, der damals Debatten auslöste – und bis heute nachhallt. Befreiung? Viele empfanden das anders. Besonders jene, die damals lebten.

Ein Tag – viele Realitäten

Wie dieser Tag erlebt wurde, hing davon ab, wo man sich befand. In Bayern, wo amerikanische Truppen bereits seit Wochen einmarschiert waren, war es still geworden. Die Kämpfe hatten aufgehört. Die Menschen waren erschöpft, viele froh, dass es vorbei war. In Thüringen rückten die Amerikaner wieder ab – die Rote Armee rückte nach. Man wusste, dass nun eine andere Art von Besatzung begann.

In Ostpreußen oder im Sudetenland bedeutete das Ende des Krieges für viele Deutsche nicht Befreiung, sondern Flucht, Vertreibung, Angst. Millionen Menschen verloren ihre Heimat. Ganze Städte wie Königsberg oder Breslau wechselten ihre Namen, Sprachen und Kulturen.

In Berlin lagen Trümmer. Die Stadt war geteilt – nicht sichtbar durch Mauern, aber durch Macht. Die sowjetischen Soldaten wurden als Sieger gefeiert – nicht überall friedlich. Viele Berlinerinnen erinnerten sich an Gewalt, an Angst vor Übergriffen. In den westlichen Sektoren wurde abgewartet, gehungert, gehofft.

Die Befreiung der Konzentrationslager brachte das ganze Ausmaß der deutschen Verbrechen zutage. Für die Überlebenden war es tatsächlich ein Tag der Erlösung, für viele kam diese Befreiung jedoch zu spät. Die Bilder der ausgemergelten Häftlinge in Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau gingen um die Welt und schockierten selbst jene, die bereits von den Grausamkeiten gehört hatten.

Befreier oder Besatzer?

Für die Alliierten war der 8./9. Mai ein Triumph. In London und Paris läuteten die Glocken, Menschen tanzten auf den Straßen. Für sie war es der Sieg über ein monströses Regime. Die Bilder aus den Konzentrationslagern hatten alle Zweifel hinweggefegt. In den USA galt der Tag als „V-E-Day“ – Victory in Europe. Roosevelt hatte diesen Moment nicht mehr erlebt; er war wenige Wochen zuvor, am 12. April, verstorben. Sein Nachfolger Harry S. Truman verkündete den Sieg mit den Worten: „Dies ist ein feierlicher, aber glorreicher Tag.“

Und in Deutschland? Zwischen Scham, Erleichterung, Verdrängung und Trauer oszillierten die Gefühle. Thomas Mann, aus dem amerikanischen Exil, schrieb im Mai 1945: „Deutschland wird nur durch Leiden erlöst werden. […] Dieser Tag ist kein Tag des Triumphs, sondern ein Tag der Verantwortung.“ Auch das ist wahr: Die Verantwortung begann erst.

Für viele Deutsche bedeutete der 8. Mai zunächst materielles Elend. Die Städte waren zu 40 Prozent zerstört, die Infrastruktur lag darnieder. Millionen waren auf der Flucht oder vertrieben worden. Hunger und Kälte bestimmten den Alltag. Die „Stunde Null“ war keine Stunde des Neubeginns, sondern eine Zeit des Überlebens und der Unsicherheit.

Wandel der Erinnerungskultur

Die Deutung des 8. Mai hat sich in Deutschland über die Jahrzehnte gewandelt. In der frühen Bundesrepublik sprach man vom „Zusammenbruch“, später vom „Ende des Krieges“. In der DDR wurde der Tag als „Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ begangen – staatlich verordnet und ideologisch überhöht. Die Westdeutschen taten sich lange schwer mit dem Begriff der Befreiung. Zu sehr war er verknüpft mit Niederlage, Verlust und Schuld.

Erst Weizsäckers Rede markierte einen Wendepunkt im westdeutschen Geschichtsbewusstsein. Er sagte: „Es gibt keine endgültig befreiten Völker.“ Damit wies er auf eine doppelte Wahrheit hin: Befreiung ist kein einmaliger Akt, sondern ein fortdauernder Prozess. Und: Freiheit trägt immer den Keim ihrer eigenen Gefährdung in sich.

Nach der Wiedervereinigung wurde die Erinnerung komplexer. Die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West, die Erinnerungen der Vertriebenen, der Überlebenden des Holocaust, der Kriegsgefangenen – sie alle forderten ihren Platz im kollektiven Gedächtnis. Der 8. Mai wurde zum Prisma, durch das die Vielschichtigkeit deutscher Geschichte sichtbar wird.

Erinnerung mit Fragezeichen

„Tag der Befreiung?“ – Die Frage im Titel bleibt bestehen. Nicht, weil die Nationalsozialisten nicht hätten gestürzt werden sollen. Sondern weil Erinnerung selten eindeutig ist. Weil viele, die damals lebten, anderes fühlten als wir heute denken.

Kästner schrieb: „Der Tag war so still, dass man sich fürchtete. Als ob man auf einem Friedhof spazieren ginge, den man selbst angelegt hat.“ Vielleicht ist das eine passende Metapher. Der 9. Mai war kein Tag des Jubels, sondern des Innehaltens. Und vielleicht ist genau das das richtige Gedenken: nicht das laute Feiern, sondern das leise Fragen.

Was bedeutet Befreiung? Was tun wir heute damit? Sind wir heute in der Lage, nicht wieder in etwas hineinzuschlittern wie damals – ohne es zu bemerken? Sind wir reifer geworden und verantwortungsvoller? Haben wir den Grad an Selbstständigkeit erreicht, um zukünftig Zeiten wie damals zu vermeiden?

In einer Zeit, in der in Europa wieder Krieg herrscht, in der demokratische Werte weltweit unter Druck stehen, gewinnen diese Fragen neue Dringlichkeit. Der 8. Mai erinnert nicht nur an das Ende eines schrecklichen Kapitels, sondern mahnt uns, wachsam zu bleiben. Denn Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern müssen immer wieder neu errungen und verteidigt werden.

Die Antworten darauf liegen nicht in der Vergangenheit – sondern in unserem täglichen Tun. In unserer Bereitschaft, aus der Geschichte zu lernen. In unserem Mut, für Menschlichkeit einzustehen. Und in der Erkenntnis, dass Frieden und Freiheit nicht nur Geschenke sind, sondern Aufgaben, die jede Generation aufs Neue bewältigen muss.

Sapere aude!

S. Noir