Der Spaziergänger – nachgedacht

Erst mal Kaffee! – Es erzählt sich leichter mit Kaffee. Die Tage werden kürzer, die Nächte länger, die Gespräche, wenn man sie denn mal wieder führen kann, sind viel lebhafter und erzählerischer, als dies noch vor der ungnädigen Zeit der Fall gewesen ist; auch aus mir sprudelt es oft nur so heraus und ich bin dann selbst immer wieder erstaunt, dass mein innerer Stausee mit so viel Unausgesprochenem gefüllt ist. Manchmal jedoch ereignen sich die Dinge anders als erwartet, dann verharre ich in Ruhe und denke nach. – Es gleicht dem Skizzieren; ich folge den Gedanken, als ob sie ein Stift wären, der übers Papier wandert und ich beobachte, was sich abzeichnet, ob es eine Form annimmt oder nicht. Das Gedankengekritzel landet dann freilich wieder im Papierkorb; manchmal jedoch entwickeln sich auch schöne Formen, die ich nicht wegwerfe – ich bewahre sie in mir auf. Neulich beim Lieblingsbäcker. Als Brillenträger mit Maske. Hinter dem Tresen wartet die Verkäuferin auf meine Ansage; ich warte auch, da ich den Zettel mit den Einkaufsnotizen nicht lesen kann: Die Brille ist total beschlagen – es ist Herbstzeit. Ich nehme die Brille ab, halte den Zettel so weit wie möglich weg von mir und trage meine Bestellung vor. Die nächste akrobatische Einlage folgt: das Kleingeld aus dem Portemonnaie zusammensuchen. Ich versuche mein Bestes, gebe dann aber auf und zahle direkt mit einem Schein. – Diese Maskenzeit erschwert vieles, nicht nur das Atmen. Der Stress endet an diesem Morgen, als ich wieder die Bäckerei verlasse, die Brille unbeschlagen auf die Nase setzte und die Einkaufstüte sich gut und sicher verstaut unter meinem Arm befindet. Ich laufe zurück nach Hause – auf dem Trottoir. Erst mal durchatmen, dachte ich. In diesen Augenblicken schau ich mir gerne die Häuserzeilen auf den beiden Straßenseiten an; sie wirken auf mich, als befände ich mich irgendwo mitten in Berlin – es keimt Großstadtflair auf; es liegt der Duft der großen freien Welt in der Luft. Auch hier wird gebaut, renoviert und gewerkelt. Eine neue Baustelle in dieser Straße? Ich überlege, ob sie auch schon gestern und vorgestern hier gewesen ist, denn aufgefallen ist sie mir eigentlich erst jetzt. – Eigentlich, welch seltsames Wort, ein Füllwort? Ich nutze es – eigentlich – relativ häufig; ein Sprachfehler von mir? Ich schaue auf die Baustelle und stehe plötzlich selbst in ihr. Irgendwie muss ich die Absperrung auf dem Gehweg übersehen haben und ich blicke in ein freundliches, aber leicht verdutztes Gesicht eines Lkw-Kranführers, der soeben innehält und mich anspricht: “Der Weg hier ist eigentlich für Fußgänger gesperrt!” Ich hätte fast aus dem Affekt heraus entgegnet: “Na ja, wenn es nur – eigentlich – für Fußgänger gesperrt ist, dann kann ich ja hier durch!” Natürlich habe ich mir diesen Satz verkniffen; ich habe mich entschuldig, dass ich die Absperrung nicht gesehen habe und ganz in Gedanken versunken war und zog mich so aus dieser Affäre. Aber dieses Wort: Eigentlich ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Er hätte ja sagen können: Der Weg hier ist für Fußgänger gesperrt! Das wäre klar und eindeutig gewesen; er aber verwendete dieses seltsame Wort, das bei genauerer Betrachtung die imperative Aussage des Satzes stark abschwächt. Ich glaube er wollte nur höflich sein; also – eigentlich – ein netter und höflicher Zug von ihm. Aber dieses – eigentlich – schwächt das Lob so sehr ab, dass es vage und unverbindlich wirkt. Eigentlich sollten wir dieses Wort doch am besten versuchen zu vermeiden – eigentlich.

SN