Verhaftungslisten gibt es nur im Buch

Ich sitze am Schreibtisch, vertieft in mein Buch: „Februar 33“, das die Schicksale der deutschen Intellektuellen, Schriftsteller, SPD- u. KPD-Anhänger zurzeit der Machtergreifung in Berlin historisch in Erzählform aufarbeitet; plötzlich werde ich aus meiner Welt entrissen; ein lautstarker Demozug katapultiert mich ins Jahr 2022 zurück; Aufrufe zur Teilnahme am Demozug am kommenden Montag in Bamberg erschüttern mich. Weitere lautstarke Appelle fallen; es fällt das Wort Demokratie; ich spüre einen kalten Schauer den Rücken entlang laufen; erinnere mich an die letzten Meldungen in der Presse u. immer wieder dringt das Wort: Herbst in mein Gedächtnis; neue Einschränkungen, die das Volk nicht will, aber die Politik mit aller Härte, so scheint es, umsetzen möchte. Frankreich begrub alle Corona-Maßnahmen, Deutschland geht – wie immer – einen deutschen Sonderweg; gründlich, wie immer; ich denke an die Stelle im Buch, wie Willi Münzenberg Berlin unter großer Gefahr verlässt, übers Saarland in Sicherheit flieht. Wo sind wir? Wo wollen wir hin? Alfred Döblin hatte ebenfalls Glück – er floh erfolgreich 33; viele andere wurden verhaftet, fanden den Tod durch die Nazis: Journalisten, Schriftsteller; alle, die dem System hätten gefährlich werden können, mussten um ihr Leben bangen – ich denke an Heinrich u. Thomas Mann, Hans Fallada, Gottfried Benn u. weitere.
Die Lautsprecher des Demozuges sind jetzt wieder verstummt; wahrscheinlich außerhalb meiner Wahrnehmung. Eine seltsame, nicht greifbare Stimmung ergreift mich – Stille: die Ruhe vor dem Sturm? Noch ist es Sommer, die Wohnung warm, Verhaftungslisten gibt es nur in meinem Buch, doch wie frei ist noch das Wort, der Mensch?

S.