Der Freytag: Ein besseres Klima dank Furor teutonicus.

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« So beginnt das Gedicht Mignon von J. W. v. Goethe; er denkt an diese Zeilen. Er sitzt im Caffè Lavena, in Venedig. Es riecht nach altem Holz, Salzwasser nach Hafen und etwas leicht modrig; aber auch nach frisch gebrühtem Kaffee und Gebäck. Das Lavena. In stiller Ehrfurcht denkt er: Vielleicht sitze ich gerade auf einem der Plätze, wo Richard Wagner einst saß, aß und dachte? Er, der Maestro, kam tagtäglich immer zur selben Zeit ins Kaffee; stets in Begleitung seines privaten Gondoliere – der Livestyle von Wagner ist in vielen Facetten sehr speziell gewesen, so auch hier in Venedig. Vielleicht muss man groß denken, um groß zu sein?, denkt er bei sich. Und schlürft genüsslich seinen Cappuccino.

Ein reges Treiben klingt um ihn herum; ein Sprachmischmasch hier, ein Straßenmusikant dort, vis-à-vis Gläser- und Tassengeklirre. Das Jahr ist so schnell wie ein Wimpernschlag verflogen. Sein Schreibjahr ist ausgeklungen; alle Arbeiten für seinen Verleger sind abgeschlossen und kurz entschlossen hat er seine Koffer gepackt und fuhr mit dem Zug nach Venedig. Mit dem Zug nach Venedig; ein lang’ gehegter Traum, den er sich selbst jetzt zum Jahresende erfüll hat. Es war eine entspannte Fahrt. Keine Verspätungen und ab der Haltestelle Brennero (Brenner) glitten all die vielen seelischen Ballastbleiplatten von ihm ab, wie Federn im Wind.

Vielleicht für immer hierbleiben und dem bleiernen Deutschland den Rücken zukehren? Sein Herz und sein Gemüt erwärmt sich bei diesem Gedanken; die Stimmung im Land gefällt ihm nicht mehr; der freie und offene Umgang im Land verengt sich; Klartext ist durch ideologische Floskeln ersetzt worden; an Fakten wird gefeilt, gemeißelt und geglättet wie einst zu Michelangelos Zeiten, als er seinen David formte. Eine wunderschöne Skulptur, Zeitzeugnis der Hochrenaissance; nur leider eine Idealisierung – Wunschdenken. In der Kunst ist das kein Problem, aber im realen Leben, in der Wirtschaft und in der Politik ist dieser David-Blick fatal; jeder spürt es; es traut sich nur niemand, dem Kaiser zu sagen: Du bist nackt!

Er nimmt seinen Cappuccino, schlürft und denkt weiter, wie es wäre, für immer hier zu sein, hierzubleiben. Venezia Santa Lucia – sogar die Bahnhöfe klingen hier mit einer Leichtigkeit, die man in Deutschland nicht mehr findet, falls es sie überhaupt jemals gab. Klima wird von Menschen gemacht, denkt er. Ja, das zwischenmenschliche Klima. Die Römer schrieben den Germanen den »Furor teutonicus« (die teutonische Raserei) zu. Wahrscheinlich stammt diese Überlieferung vom Dichter Marcus Annaeus Lucanus aus dem Jahre 39–65 n. Chr. Am Ende des Jahres von Venedig aus auf die Germanen geblickt: Wo ist sie heute nur im Volk geblieben, die teutonische Raserei, der Furor teutonicus?

Fortsetzung folgt …

S.

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