„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – wer kennt diesen Satz nicht, selbst wenn er nie das ganze Drama gelesen hat? Johann Wolfgang von Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil gehört zur deutschen DNA wie die Bratwurst zum Volksfest. Und doch wird er selten wirklich gelesen, geschweige denn verstanden. Dabei könnte er kaum aktueller sein.
Denn was treibt diesen Dr. Faust um, diesen gelehrten Herrn mit Degen und Depression, der sich an nichts mehr erfreuen kann, obwohl er alles weiß? Es ist die Leere im Überfluss, die Sehnsucht nach Sinn in einer Welt, die ihn mit Wissen überschüttet, aber nichts erklärt. Wenn Faust im Osterspaziergang sagt, dass er hinaus will „ins freie Feld“, dann möchte man ihn heute fast bei der Hand nehmen, mit ihm einen Waldspaziergang machen, einen Podcast aufnehmen – oder ihm einfach das Smartphone abnehmen.
Ein Lebenswerk im wörtlichen Sinne
Goethes Faust ist kein Werk wie jedes andere. Es ist ein Lebenswerk – im wörtlichen Sinne. Die ersten Skizzen schrieb Goethe zwischen 1772 und 1775, also mit Anfang zwanzig. Der sogenannte Urfaust – ein Fragment, roh, ungeschliffen, doch voller dramatischer Wucht – blieb Jahrzehnte in der Schublade. Erst nach seiner Rückkehr aus Italien 1788 griff Goethe den Stoff wieder auf, überarbeitete die Szenen, fügte neue hinzu, strich, schliff, komponierte. Mehr als dreißig Jahre dauerte es, bis er den ersten Teil der Tragödie 1808 veröffentlichte. Da war er fast sechzig. Und er sollte noch einmal über zwanzig Jahre an Faust II arbeiten, bis er 1832, wenige Monate vor seinem Tod, auch diesen Teil abschloss.
Diese beispiellose Entstehungsgeschichte macht Faust zu einem einzigartigen Dokument des literarischen Schaffens. Hier wächst ein Werk durch alle Lebensphasen seines Schöpfers hindurch – vom Sturm und Drang über die Klassik bis zur Romantik. Man kann förmlich sehen, wie der junge Goethe, noch voller rebellischer Energie, die rohen Szenen des Urfaust niederschreibt, wie der gereifte Klassiker in Italien die Verse formt und wie der alte Meister schließlich die metaphysischen Dimensionen des zweiten Teils auslotet.
Die Quellen des Unbehagens
Warum aber dieser Stoff? Warum ausgerechnet die Geschichte vom Gelehrten, der einen Teufelspakt eingeht? Goethe schöpft hier aus mehreren Quellen – aus dem Volksbuch vom „Doctor Faustus“ des 16. Jahrhunderts, aus der Faust-Version von Christopher Marlowe, aus theologischen, mystischen und naturphilosophischen Strömungen seiner Zeit. Aber mehr noch: aus sich selbst.
Goethe hatte – wie Faust – alles studiert: Juristerei, Philosophie, Naturwissenschaft, Poesie. Und er kannte – wie Faust – die Unruhe des Geistes, die Unzufriedenheit mit bloßem Wissen, das Sehnen nach Erfahrung, nach Leben. Faust ist nicht nur Dichtung, er ist Selbstgespräch. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich dem Werk nie ganz entziehen konnte. Es berührt nicht nur das Denken, sondern das Dasein selbst.
Besonders die Gretchentragödie speist sich aus realen Erfahrungen: Das historische Urbild war die Kindermörderin Susanna Margaretha Brandt, die 1772 in Frankfurt hingerichtet wurde. Die Akten des Verhörs befanden sich in Vater Goethes Besitz, und Goethe selbst nahm innersten Anteil an den Geschehnissen. So wird Faust zur dichterischen Lebensbeichte, zur Auseinandersetzung mit Schuld, Verantwortung und der Frage nach dem richtigen Leben.
Der Teufel von heute
In einer Welt, in der immer mehr Menschen ausgebrannt nach Selbstverwirklichung suchen, in der Coaches das Glück versprechen und Algorithmen unsere Sehnsucht lenken, hat Faust nichts von seiner Relevanz eingebüßt. Wir alle schließen heute täglich kleine Verträge mit der Beschleunigung – es fehlt oft nur der blutrote Federkiel.
Und dann ist da Mephisto, der vielschichtigste Teufel der Literaturgeschichte. Kein Höllenfürst mit Hörnern, sondern ein ironischer Intellektueller, einer, der die Dinge durchschaut und sie deshalb verachtet. „Ich bin der Geist, der stets verneint“, sagt er – und trifft damit einen Nerv unserer Zeit, in der sich Kritik oft in Zynismus erschöpft. Vielleicht ist Mephisto heute Redakteur bei einer Satireplattform oder Co-Host eines Podcasts. Einer, der weiß, dass er nichts ändert – und es trotzdem genießt.
Mephisto verkörpert die Dialektik der Aufklärung avant la lettre: Wo alles hinterfragt wird, wo jede Wahrheit dekonstruiert werden kann, da verliert sich der Sinn für das Echte, Wahre, Schöne. Seine Verneinung ist nicht revolutionär, sondern letztendlich steril. Er ist der perfekte Begleiter für eine Gesellschaft, die sich in endloser Ironie gefällt, aber vergessen hat, wofür sie eigentlich steht.
Gretchen: Das moralische Zentrum
Und Gretchen? Sie ist keine bloße Nebenfigur, keine naive Verführte. Sie ist das moralische Zentrum des Stücks. Während Faust nach Größe strebt, bleibt sie – trotz aller Tragik – Mensch. Sie verliert alles und wird doch gerettet. Er aber gewinnt alles – und bleibt innerlich leer. Es ist dieser doppelte Boden, den Goethe so meisterhaft verlegt, der das Werk zu einem bleibenden Rätsel macht.
Gretchens Schicksal zeigt auch, wie sehr Faust ein Werk seiner Zeit ist: die Frage nach der Emanzipation der Frau, nach gesellschaftlichen Normen und deren Übertretung, nach der Doppelmoral einer Gesellschaft, die Männern alles verzeiht, Frauen aber für denselben Fehltritt verdammt. Gretchen wird zur Kindsmörderin nicht aus Bosheit, sondern aus Verzweiflung – ein sozialkritisches Motiv, das bis heute nichts von seiner Schärfe verloren hat.
Die Frage nach dem richtigen Leben
Ich habe Faust I zuletzt wieder gelesen. Nicht nur quer, nicht nur die Zitate, sondern ganz – mit Stift und Randnotizen. Und ich habe etwas gemerkt, das ich früher überlesen habe: Es geht nicht um den Teufel. Es geht um uns. Um die Frage, wie wir leben wollen – und ob wir überhaupt wissen, was das heißt.
Fausts Tragödie ist nicht, dass er mit dem Teufel paktiert. Seine Tragödie ist, dass er nicht weiß, was er eigentlich will. Er sehnt sich nach dem Augenblick, zu dem er sagen könnte: „Verweile doch, du bist so schön!“ Aber als solche Momente kommen – mit Gretchen, in der Natur, im Rausch der Walpurgisnacht – kann er sie nicht ergreifen. Er ist gefangen in seiner Unersättlichkeit, seiner Unfähigkeit zur Dankbarkeit.
Das ist der moderne Mensch par excellence: immer auf der Suche, immer unzufrieden, immer der Meinung, das wahre Leben fände anderswo statt. Faust ist der Prototyp des FOMO – Fear of Missing Out – lange bevor es diesen Begriff gab.
Ein Werk für die Krise
Faust ist ein Werk der Grenzerfahrung. Es entstand in einer Zeit des Umbruchs, als die alte Ordnung zerfiel und die neue noch nicht gefunden war. Goethe schrieb es durch alle seine Lebenskrisen hindurch – die Sturm-und-Drang-Zeit, die Italienreise, die Freundschaft mit Schiller, das Alter. Jede Phase hinterließ ihre Spuren im Text.
Deshalb ist Faust auch kein einheitliches Werk, sondern ein Palimpsest, ein Text, der alle Schichten seines Entstehens durchscheinen lässt. Das macht ihn sperrig, aber auch unerschöpflich. Jede Generation kann in ihm etwas anderes entdecken, jede Lebensphase neue Bedeutungen freilegen.
Goethe selbst sagte einmal: „Mein ganzes Leben war nichts als das, was Faust durchlebt.“ Vielleicht hat er damit alles gesagt. Faust ist kein Buch für den Schulunterricht. Es ist ein Buch für die Lebensmitte. Für die Krise. Für die späten Nächte, in denen man spürt, dass ein Lebenslauf noch kein Leben ist.
„Der Worte sind genug gewechselt“, heißt es im Stück. Aber eines bleibt: Faust ist nicht erledigt. Er ist Gegenwart. Vielleicht sogar Zukunft. In einer Zeit, in der Social Media uns endlose Möglichkeiten der Selbstdarstellung bietet und gleichzeitig neue Formen der Einsamkeit schafft, in der wir zwischen Netflix-Serien und Meditation-Apps nach Erfüllung suchen und sie doch immer seltener finden, bleibt Fausts Frage aktuell: Wie leben wir richtig?
Die Antwort gibt das Werk nicht. Aber es stellt die Frage mit einer Intensität, die uns nicht loslässt. Und das ist vielleicht schon genug.
Sapere aude!
S. Noir