Die Bamberger Luft ist schwühlwarm an diesem Abend, als ich die ehrwürdige Aula der Universität betrete. Es ist der erste von drei Abenden, die ich im Rahmen der 35. Bamberger Hegelwoche verbringen werde – ein Ritual, das mich Jahr für Jahr anzieht wie eine philosophische Pilgerfahrt. Das Thema dieser Tage: „Wahrheit, Lüge, Internet?“ – eine Trias, die in unserer Zeit brennender nicht sein könnte.
Professor Dr. Konrad Liessmann von der Universität Wien hat heute das Wort. Sein Vortrag trägt den Titel „Gewusste Wahrheiten. Über Fakten und ihre Fiktionen“ – ein Titel, der bereits die Paradoxie unserer Zeit einfängt. Ich sitze in der mittleren Reihe, umgeben von Menschen, die offenbar denselben Hunger nach Klarheit verspüren wie ich. Der Saal ist gut gefüllt, ein ermutigendes Zeichen dafür, dass das Nachdenken über die Grundlagen unseres Erkennens nicht aus der Mode gekommen ist.
Liessmann beginnt mit der großen Frage, die die Philosophie seit jeher umtreibt: Was ist wahr? Eine Frage, so elementar wie das Atmen und doch so komplex, dass sie Denker über Jahrtausende beschäftigt hat. Die klassische Antwort kommt daher wie ein alter Bekannter: Wahr ist, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wahr ist, was stimmig mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Doch schon bei diesen ersten Sätzen spüre ich die Tücken. Was ist diese Wirklichkeit? Ist sie das, was ich sehe, was ich erlebe, was meine Sinne mir vermitteln? Oder ist sie etwas anderes, etwas Objektives, das jenseits meiner subjektiven Wahrnehmung existiert? Und wer bestimmt, was „stimmig“ ist?
Der Professor führt uns geschickt in die Fallen der Sprache. Der Ausdruck „falsche Tatsachenbehauptung“ sei widersprüchlich, erklärt er. Denn Tatsachen sind wahr, Behauptungen hingegen nicht. Es sind nur Behauptungen – eine Wortverwirrung, die in politischen Debatten unserer Zeit täglich zu beobachten ist. Hier zeigt sich bereits, wie sehr die Sprache selbst zur Quelle der Verwirrung werden kann.
Plötzlich zitiert Liessmann Goethe: „Am Anfang war die Tat.“ Ein direkter Widerspruch zur Bibel, wo es heißt: „Im Anfang war das Wort“ (Johannes 1,1). Zwei Weltanschauungen prallen hier aufeinander: die des Handelns und die des Sprechens, die der Empirie und die der Offenbarung. Fausts Übersetzung des Johannesevangeliums ist mehr als nur literarische Kühnheit – sie ist ein philosophisches Programm, das die Priorität der Erfahrung vor der Theorie behauptet.
Während ich Liessmanns Ausführungen folge, wird mir bewusst, wie demütig wir gegenüber der Wahrheit sein müssen. Wir können uns der Wirklichkeit immer nur annähern, niemals sie vollständig erfassen. Wissenschaftliche Wahrheiten sind lediglich progressive Wahrheiten, annähernde Wahrheiten. In der Wissenschaft geht es immer um gegenwärtiges Wissen – um gut bestätigte, aber letztlich vorläufige Wahrheiten.
Hier offenbart sich ein fundamentaler Unterschied zu dem, was Philosophen eine apodiktische Wahrheit nennen. Eine apodiktische Wahrheit ist eine unwiderlegbare, notwendige Wahrheit – wie etwa die Aussage, dass alle unverheirateten Männer Junggesellen sind. Sie ist durch logische Notwendigkeit wahr, unabhängig von empirischer Erfahrung. Wissenschaftliche Wahrheiten hingegen sind immer hypothetisch, immer der Revision unterworfen.
Besonders fasziniert mich Liessmanns Hinweis auf die Beziehung zwischen Fakten und Handlung. Fakten schreiben uns kein Handeln vor, betont er – denn sonst wäre der Mensch nicht frei. Das ist ein zutiefst kantischer Gedanke: Die Tatsache, dass Menschen sterblich sind, zwingt uns nicht zu einem bestimmten Umgang mit dem Tod. Die Tatsache der Klimaerwärmung zwingt uns nicht zu bestimmten politischen Maßnahmen. Zwischen dem Sein und dem Sollen klafft eine Lücke, die David Hume als erster philosophisch beschrieben hat. Aus deskriptiven Aussagen folgen nicht automatisch normative Forderungen.
Und hier gelangen wir zu einem der schwierigsten Terrains der Philosophie: den Werten. Werte sind immer eine subjektive Präferenz, so Liessmann. Kant würde dem zustimmen, insofern er die Autonomie des Subjekts betont – auch wenn er gleichzeitig nach universell gültigen moralischen Prinzipien suchte. Nietzsche hingegen radikalisierte diese Subjektivität: Für ihn sind alle Werte menschliche Schöpfungen, Projektionen auf eine an sich wertfreie Welt. „Gott ist tot“, verkündete er, „und wir haben ihn getötet“ – womit er meinte, dass die traditionellen, vermeintlich objektiven Wertesysteme ihre Legitimation verloren haben.
Dennoch: Werte gelten oder sie gelten nicht. Hier liegt eine eigenartige Dialektik. Einerseits sind sie subjektiv, andererseits beanspruchen sie Geltung über das Subjektive hinaus. Ein Wert, der nur für mich gilt, ist kein Wert im eigentlichen Sinne – er ist bloße Willkür.
Anders verhält es sich mit Glaubenswahrheiten. Diese sind nicht verhandelbar, wie Liessmann treffend bemerkt. Sie gründen nicht in Empirie oder Logik, sondern in Überzeugung, in einer existenziellen Entscheidung. Der Gläubige kann seine Glaubenswahrheit nicht beweisen, ohne sie zu zerstören. Der Atheist kann sie nicht widerlegen, ohne den Boden zu betreten, auf dem sie steht. Hier berühren wir das Mysterium des Glaubens, das sich der rationalen Durchdringung entzieht.
Zum Schluss führt uns Liessmann zur Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit. Der Lügner, so seine paradoxe Erkenntnis, muss immer die Wahrheit kennen. Nur wer weiß, was wahr ist, kann bewusst lügen. Hier fällt mir Nietzsche ein, der einmal sinngemäß bemerkte: Lügner und Künstler haben eine Gemeinsamkeit – beide kennen die Wahrheit und entscheiden sich bewusst dagegen. Der Künstler erschafft eine alternative Realität, der Lügner verfälscht die bestehende. Beide sind Meister der bewussten Abweichung vom Faktischen.
Ein Lügner kennt immer die Wahrheit – diese simple Erkenntnis ist von erschreckender Aktualität. In einer Zeit, in der von „alternativen Fakten“ die Rede ist, müssen wir fragen: Handelt es sich um bewusste Lügen oder um unterschiedliche Interpretationen der Realität? Die Antwort entscheidet über die moralische Bewertung.
Als ich die Aula verlasse, nehme ich mehr Fragen mit, als ich mitgebracht habe. Aber vielleicht ist das der Sinn der Philosophie: nicht die endgültigen Antworten zu liefern, sondern uns zu lehren, die richtigen Fragen zu stellen. In einer Welt, die überschwemmt wird von Informationen, die sich als Wahrheiten verkleiden, ist die Fähigkeit zur Unterscheidung wichtiger denn je.
Die nächsten beiden Abende werden zeigen, wie sich das Thema weiter entfaltet: von den gewussten zu den gefühlten Wahrheiten, schließlich zu den algorithmischen. Drei Dimensionen der Wahrheit in einer Zeit, die nach Orientierung dürstet.
Fortsetzung folgt.
Sapere aude!
S. Noir