Feuilleton – Stationen: Dichter & Denker – In Leipzig

Der Bahnhof – das Auge isst bekanntlich mit

Die Stadt zeigt sich von ihrer ruhigen Seite; keine Demos, ein kalter klarer Januartag und es ist gegen Mittag, als ich in Leipzig am Bahnhof ankomme. Der erste Eindruck: überwältigt von der Architektur des Bahnhofs und von dem Gefühl, das dieser Bau und seine Menschen in mir hervorruft. Es ist, als wäre ich in einer anderen Zeit gelandet. Die lange Zugfahrt mit den damit einhergehenden Beschäftigungen – Lesen und vor allem Denken – zollen jetzt ihren Tribut. Hunger und Durst machen sich bemerkbar und unterbrechen meinen stillen Moment der Entrückung und des Bestaunens und holen mich in die kalte, reale Welt zurück. Lange muss ich nicht Ausschau halten. Es ist mehr die Qual der Wahl, die sich an diesem Ort breitmacht, denn die Auswahl ist üppig und vielfältig. Eine Einkehrmöglichkeit reiht sich an die andere, und pragmatisch, wie ich bin, betrete ich einfach die nächstgelegene. Ich gehe in den Laden einer großen amerikanischen Selbstbedienungs-Kaffee-Kette. Kaum im Laden, rutscht mir ein leises WOW über die Lippen. Ich bin schon wieder entzückt über das, was sich meinem Kunst- und Architekturauge zeigt. Ein überwältigender Anblick. Jugendstil wohin man blickt, und auch die leibliche Kost und dieser Duft nach frischem Kaffee erfreuen mein Gemüt. Nur wenige Augenblicke in Leipzig und schon habe ich diese Stadt in mein Herz geschlossen. Vielleicht war es diesmal auch ganz gut, dass ich im Vorfeld mehr mit dem eigentlichen Grund meiner Reise nach Leipzig beschäftig war und kaum Zeit fand, mich mit der Stadt auseinanderzusetzen –
denn ohne Erwartungen ist es doch viel einfacher, sich erstaunen zu lassen.

Es wagnert – wieder

Jetzt bin ich da, zum ersten Mal in der Geburtsstadt von Richard Wagner, meines Lieblingskomponisten oder Tondichters, wie er sich selbst gern titulierte. Und der Grund meines Besuchs war die Aufführung von Rheingold in der Oper. Im Nachgang scherze ich öfters, wenn ich über diese Reise spreche, dass ich mir eigentlich in Köln/Bonn doch viel besser hätte das Rheingold anschauen sollen, denn vielleicht hätte ich mich danach im Rhein auf die Suche begeben, um das Gold zu finden: Weia! Waga! Woge, du Welle … Denn ich war jahrelang in dieser Region beruflich tätig, aber ich musste erst nach Leipzig reisen, um die Geschichte rund ums Rheingold zu ergründen. Jedoch sei auch als kleiner Trost erwähnt, dass ich zumindest eine Parsifal-Premiere in der Kölner Oper besucht habe und bei dieser Gelegenheit auch Alfred Biolek traf, was aber wieder eine andere Geschichte ist, die ein andermal erzählt werden will.

Warum 1989 in Leipzig stattfinden musste

Der 3. Oktober liegt ganz frisch hinter uns. Wir schreiben das Jahr 2021 und seit 1989 hat sich viel verändert. Die Architektur hat sich verändert, viele Fassaden erscheinen in neuem Glanz. Und in seiner Gesamtheit kann man Leipzig doch als eine Weltstadt bezeichnen – mit ganz viel altem Klang der deutschen Klassik.

Nachdem ich im Hotel eingecheckt hatte, hielt ich mich nicht lange dort auf, sondern ging in die Stadt auf Erkundungstour. Der Opernbesuch stand erst am nächsten Tag an und ich hatte viel Zeit und konnte mich im Fluss der Stadt treiben lassen. Ich folgte dem Zufall und ging los. Auf den Spuren von Goethe fand ich mich in Auerbachs Keller ein, an der Alten Börse und am Markplatz versetzte mich die Stimmung zurück in die Studentenzeit von Richard Wagner. Viel studiert hatte er in Leipzig damals nicht; vielmehr war er dem Spiel, dem Alkohol und den schönen Dingen des Lebens zugetan. Auch hatte Richard viel Glück in Leipzig, denn als er beim Corps Saxonia Leipzig agierte, hagelte es Contragen und Duelle, aber der junge Wagner hatte mehr Glück als Verstand. Weder ein Duell noch eine Contrage kam wirklich zustande und so blieb er auch diesmal verschont von der Wirkung seines doch häufig losen Mundwerks.

Aber auch das sind viele andere Geschichten. Jedoch konnte ich mich, so alleine am Marktplatz stehend, gedanklich gut in den jungen Richard hineinversetzen. Der Flair von Leipzig ist etwas ganz Besonderes und macht vieles möglich. Nach dem ganzen Sinnieren und dem Wandeln in der Wagnerwelt kamen Hunger und Durst wieder durch und ich hielt Ausschau nach einem Ort zur Einkehr. Irgendwie führte mich der Zufall in ein Lokal in der Nähe vom Bahnhof. Es war ein kleines, sehr gemütliches italienisches Restaurant. Über das Essen kann ich nur berichten: Es war, als hätte ich direkt in Bella Italia gespeist. Richard Wagner war übrigens auch ein Italienfan. Er liebte Venedig und die italienische Oper; ganz besonders Rossini liebte und schätzte er.

Im Lokal kam ich mit den Besitzern ins Gespräch. Es war bereits spät in der Nacht. Ich war einer der letzten Gäste und es flackerte schon fast so etwas Ähnliches wie Familienstimmung auf. Die Besitzer saßen bei mir am Tisch, sie spendierten zahlreiche Kaffees und ich erzählte von Richard Wagner und fragte natürlich auch nach, wie sie Leipzig sehen und so weiter. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Besonders fasziniert war ich von einer Bedienung, einer alteingesessenen echten Leipzigerin, die geschätzt um die 60 Jahre alt war. Sie erzählte mir aus ihrem Leben, aus der DDR-Zeit, was sie erlebt und wie sie die Wende und die friedliche Revolution 1989 miterlebt hatte. Obwohl wir uns noch nie vorher gesehen hatten, waren wir sehr vertraut und offen miteinander. Nach diesem sehr langen Gespräch war mir klar, warum 1989 und der Umschwung nur in Leipzig stattfinden konnte: Der Freigeist dieser Menschen ist unbeschreiblich, wahrscheinlich genetisch bedingt. Seit dieser Zeit sage ich oft – mit einem Augenzwinkern, aber durchaus ernst gemeint –, dass die nächste Revolution nur in Leipzig stattfinden kann.

Nach dieser ersten initialen Begegnung sollten noch viele weitere Aufenthalte in dieser schönen Stadt in Sachsen folgen. Ich kann nur sagen, wenn ich dort bin, schlägt mein Herz sächsisch und mein Geist ist freier und klarer, wie er freier und klarer nirgendwo anders sein kann.

#SN


Lyrik: In Leipzig

Wie kühl die Straße wirkt –
ein Fußweg voll mit vereister Platten.
Flocken im Schein der Straßenlaternen,
bunter Glimmer
die Neonröhren
und Rauch aus einer Zigarette
benebeln alle Sinne.
Straßenbahnen gleiten
sanft im Gleisbett der Zeit.
Stimmen,
ohne Klang,
erschallen dumpf –
die Nacht ist kühl.
Bunte Zeitzeugen
einer konfusen Zeit,
im fahlen Licht des Vergessens
erinnern dennoch
an die Zeit vor ‘89.
Kevin
gleitet sanft
mit dem Rad
über vereiste Platten,
einer alten Unwirklichkeit.
Klänge,
gegen 10 Uhr erwacht,
Tabakfreuden auf dem Balkon:
eisig die Zeit.
Wie weit weg
von der Mitte
und vom Leben?
Niemals in der Normalität bewegt.
Leipzig,
du Stadt des Tondichters.
Keine Erinnerung an die alte Zeit.
Freudig gen Süden gefahren,
Sonnenstrahlen erwärmen das Gemüt.

#SN