Zeitzeichen – Berlin 1.8.21

Die Unbeschwertheit und Nüchternheit der beschwingten Tage sind vorüber. Deckung wird gesucht. Und Geborgenheit von allen, die nicht selbst in der Lage sind, sich vor einer unwirklichen Dunkelheit in Sicherheit zu begeben; der schützende Rock der eigenen Mutter, die Tage mit Liebe und Geborgenheit im Kreise der Familie, sind vom kalten Dunkel einer unwirklichen Realität erbarmungslos verschluckt worden. Die Regeln wurden von kühlen Technokraten diktiert, denen jeder fürsorgliche Sinn verloren gegangen scheint – vielleicht hatten sie ihn nie selbst erlebt, den wohlig wärmenden Schutz der eigenen Mutter. Der Vater steht stumm als Ordnungshüter – gedankenlos – all denen gegenüber, die sich vor einer Zukunft in Unfreiheit und Tyrannei fürchten. Er kann nur betäubt durch die Schlachtrufe seiner Horde, in Kampfhaltung, mit gezogenem Tränengas, in Kinderaugen blickend, seine Befehle befolgen, die weder Sinn noch Mitmenschlichkeit beinhaltet. Ohne an die Tage, die noch folgen werden zu denken, es liegt Eisigkeit vermischt mit dem Hauch des Todes in der Luft. Im Augenblick, gepusht von einer blinden Hörigkeit, nimmt die Gewalt ihren Lauf. Obrigkeiten, die sich sicher wiegen, mit dem Cocktail in der Hand, ohne Schutz, ganz frei und leicht, laben sie sich spöttisch und verächtlich am Elend all der Verlierer, auf die sie herabblicken. Gesprochen wird freilich anders, denn die Zungen waren eh und je gespalten; keiner an der Front ahnt, welch teuflisches Spiel gespielt wird. Der Vertrag ist unterzeichnet, Blut klebt an all deren Hände, die sie öffentlich in Unschuld waschen; tunken vor Macht und Geld und noch mehr Macht und Geld, und immer noch mehr Macht und Geld, ist jede Form von Mitmenschlichkeit im Hochprozentigen der Cocktails ausgelöscht worden. Sinnbilder einer Dekadenz, die in ihrer Form nie da gewesen, lassen andeuten, welch zivilisatorischer Zerfall bevorsteht.
Der Ordnungshüter steht mit Maske und Protektoren seinem Rivalen – seinem Nachbarn – den er erst jetzt zu erkennen beginnt, gegenüber; beide Blicken sich tief in die Augen. In diesem Augenblick verstehen beide, dass sie, obwohl sie sich in Kapfeshaltung gegenüber stehen, die Waffen ungleich verteil, im Geiste auf derselben Seite stehen. Karl erkennt Franz: Franz nimmt jetzt seinen Helm ab. Karl hat Tränen in den Augen und beide fallen sich in die Arme; sie erinnern sich an früher; sie sind seit Kindertagen Freunde, jetzt Nachbarn. Früher beschützte Karl den Franz vor den bösen Nachbarskindern, denn Franz war ein kleiner, schmächtiger und kränklicher Junge. Jetzt erkennen beide einander und verstehen – keiner von beiden ist ein Gewinner, beide stehen auf derselben Seite. – Die Geschichte wird mit Tinte und diesmal nicht mit Blut geschrieben!

SN

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