Feuilleton – Stationen: Dichter & Denker – Usedom

Usedom – in Bildern


Lyrik: Usedom

Das Land in Sicht –

Wellen umspülen die Seele.

Leicht wie der Wind –

gleiten am Abgrund des Augenblicks.

Lebendigkeit, Leblosigkeit –

liegen dicht an dicht.

Im Schein am Abend –

das Meer erscheint friedvoll.

Das Leben zart und weich –

Himmel und Erde vereint.

Alte Baracke: früher ein Juwel –

heute ein Ort von Vergänglichkeit.

Die Zeit steht still: Sonnenstrahlen im September –

ein letzter Hauch von Ewigkeit.

Ein Schritt: Leben und Sprache vertraut –

dennoch vieles anders und fremd.

Reichtum und Melancholie –

ein Augenblick erwärmt das Herz.

SN


Usedom – ein Kaffee an der Küste

Im Glanz des Abendlichts erscheint das Meer still und die Welt ist uns wohl gesinnt. Die Grenzen zwischen Realität und Poesie verschieben sich in Richtung Unwirklichkeit, je weiter man sich gen Norden in Richtung Ostsee bewegt. Der verblichene Glanz der alten Zeit, er ist überall hier auf der Insel allgegenwärtig; die Architektur an der Waterkant lässt nur still daran erinnern, wie es gewesen, als noch der Kaiser zur Sommerfrische diese Orte an der See besuchte – und das eigene Herz blickt aus dem Jetzt sehnsüchtig zurück; es möchte in die Vergangenheit fliehen. Der Kummer darüber, dass man im Hier-und-Jetzt gefangen ist, hält sich jedoch in Grenzen. – Der Blick auf die alten Fassaden, das Rufen der Möwen in der Ferne und der blaue Himmel lässt schnell vergessen und die Leichtigkeit des Seins an diesem Ort tröstet über die Gegenwart hinweg.

Berlin liegt nicht weit entfernt, verschwimmt jedoch hinter einer Wand des Vergessens, je länger ich hier auf der Insel verweile und die Nähe zur liebliche Ostsee spüre. – Das Rauschen der See bringt das menschliche Metronom wieder in eine langsam schwingende innere Harmonie im Takt von Leben und Natur. Das Wirkliche wird fremd, das Vage wird zur Realität. Die Menschen ziehen an meinem Tisch vorüber, wie an Schnüren gezogen spielen sie mal Komödie, mal Drama, mal Tragödie und ich fülle mit diesen kleinen Mosaikanekdoten aus dem Schauspiels des Lebens meine innere Bibliothek mit Erinnerungen. Wie schnell auch dieser Tag wieder vorüberzog; eben noch zum morgendlichen Kaffee hier Platz genommen – beobachtet, gegessen, gelebt und gelacht – schon dämmert es erneut und die klare Nacht bricht an. – Wie rein doch all diese Nächte an der Küste und wie belebend sie sind, wenn die leichte frische Brise von Meeresseite aus aufs Land trifft und ihrem Atem aus der Ferne aushaucht. Der Ruf der Pflicht lässt mich aus der Seichtigkeit des Ungezwungenen ernüchtern. – Zehn Seiten konnte ich heute in mein Notizbuch zu Papier bringen und die Novelle nimmt langsam Form und Gestalt an: die Figuren beginnen zu leben; der Rausch des Augenblicks im großen Moment des Schreibens ist wie ein Feuerwerk, wenn die Worte gelingen wollen – hier an der See, mit dieser unbeschreiblichen Vertrautheit und Verbundenheit schwebt der Füller nur so dahin und füllt Blatt für Blatt. – Ahlbeck wurde zur zweiten Heimat: Die alte Heimat wird immer fremder und fremder. Ich rufe den Ober und begleiche meine heutige Rechnung. Es sind nur gefühlt Augenblicke gewesen, die mich von Berlin und der Hektik des Lebens und meiner gegenwärtigen Situation trennen, aber diese reichten völlig aus, um das Alte, das Bekannte, fremd erscheinen zu lassen. – Im September ist mir die Gegend hier am liebsten; und kein anderer Monat steht so zentral für eine Rückschau wie dieser Herbstmonat. Die großen Touristenmassen sind wieder in ihren Alltäglichkeiten entschwunden, deren Erinnerungen sind bereits am Verblassen und der Nebel des Vergessens umhüllt deren Urlaubserinnerungen. Wenn auch die Menschen in vielen Gebieten die Orte prägen, in denen sie leben, so kehrt sich dieses Axiom hier an der Küste in die exakte Gegenrichtung um. Egal wie stark der eigene Charakter auch sein mag, Usedom verändert jeden – früher oder später. Die See schleift nicht nur den Sand, sie schleift auch an der Seele der Menschen, macht sie feiner, sensibler in ihrer Wahrnehmung und demütiger gegenüber der Natur und allem, was uns umgibt. – Ich stehe vom Platz im Kaffee an der Küste auf und ziehe meiner Wege.

SN